Nationale Sichtweise
Nationale Sichtweise
Die polnische Perspektive
Der Beginn des Ersten Weltkriegs war das Resultat von zunehmenden Konflikten, die im Europa des 19. Jahrhunderts zu eskalieren begannen. Solche Aspekte, wie die schrittweise, territoriale Ausweitung des Konflikts, der Kriegseintritt nichteuropäischer Länder, die Länge des Kriegs, die Ausmaße der Zerstörung und schließlich die beispiellos hohe Opferzahl trugen dazu bei, dass der Krieg zum beispiellosen Ereignis in der Geschichte der Menschheit wurde. Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs veränderten durch Transformationen in philosophischen, moralischen, ökonomischen und politischen Dimensionen nicht nur die Gesellschaften von beteiligten Staaten. Es ist wichtig, die Konsequenzen des Ersten Weltkriegs im Bezug auf die geopolitischen Auswirkungen und den Einfluss auf das Denken und Handeln von Nachkriegsgesellschaften in Europa zu verstehen, um die Gründe für den Beginn eines anderen globalen Konflikts im Jahr 1939 begreifen zu können.
Im Jahr 1914 gehörte Polen zu der Gruppe von europäischen Staaten, die noch nicht als autonome Staaten galten. Diese Länder erlangten erstmals oder wieder in der Konsequenz des Ersten Weltkriegs - genauer der folgenden Friedensverträge - ihre Souveränität. Im 18. Jahrhundert profitierten drei Nachbarländer - Russland, Österreich und Preußen - von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Schwäche Polens. Diese drei Staaten vereinbarten unter sich die Aufteilung des polnischen Territoriums und teilten es untereinander auf, nahmen es mit Gewalt an sich, annektierten es und unterdrückten im Laufe des nächsten Jahrhunderts jeden aufkeimenden polnischen Nationalismus. Die Aufteilung Polens auf die drei Invasoren führte dazu, dass die Polen beim Beginn des Ersten Weltkriegs auf beiden Seiten des Konflikts vertreten waren. An der Front, fochten die polnischen Soldaten für drei verschiedene Armeen: die Preußische, die Österreich-Ungarische und die Russische. Aufgrund dieser Tatsachen werden die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 von den Polen auf besondere Art und Weise wahrgenommen und sie beeinflussten auch die Rezeption des Ersten Weltkriegs in polnischen Schulgeschichtsbüchern.
Aus der Sicht Polens war der Erste Weltkrieg vor allem ein lang erwarteter Konflikt zwischen den Besatzern: Russland, Österreich und Preußen. Diese Länder arbeiteten seit über 100 Jahren daran polnische Kultur, Sprache und Identität auszulöschen. Erstmals seit der Ratifizierung der Teilungsverträge befanden sich dann im Jahr 1914 alle drei Besatzungsmächte im Krieg miteinander. Für die Polen ergab sich eine einmalige Chance die politische Freiheit und sogar die Souveränität des ehemaligen polnischen Staatsgebiets zu erlangen, falls sie die „richtige" (also siegende) Konfliktpartei unterstützten. Die allgemeine Reaktion der polnischen Bevölkerung - unabhängig davon, auf der Seite welchen Staates sie kämpften - beim Beginn des Ersten Weltkriegs war also enthusiastisch. Allerdings mischte sich dieser Enthusiasmus mit Angst und Trauer, da die Bürger einer Nation, manchmal sogar die Angehörigen einer Familie, in ausländischen Armeen auf den Schlachtfeldern gegeneinander kämpfen mussten.
Der Ausgang des Ersten Weltkriegs war für Polen sehr günstig. Zwei Besatzungsmächte, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, befanden sich auf der Seite der Verlierer. Bereits 1918 sah sich Russland, also die dritte Besatzungsmacht, aufgrund der Revolution der Bolschewisten mit politischen Chaos konfrontiert, obwohl Russland im Krieg in den Reihen der siegreichen Entente kämpfte. In den Augen der früheren Verbündeten, Großbritannien und Frankreich, stellte die bolschewistische Regierung eher eine potentielle Gefahr als einen Verhandlungspartner für die Friedensverträge dar. Dank solcher Zufälle und den großen, militärischen und politischen Anstrengungen der polnischen Gesellschaft im Laufe des Kriegs wurde es möglich, 1918 wieder einen selbstständigen polnischen Staat einzurichten.
Das bedeutet nicht, dass die polnischen Schulgeschichtsbücher und historischen Veröffentlichungen die internationale Dimension des Ersten Weltkriegs völlig ignorieren. Ganz im Gegenteil, denn die Wendepunkte der Ereignisse, die auf internationalem Terrain zur Eskalation führten, wurden erkannt und analysiert. Im Unterricht wird die Schaffung der Tripel-Allianz, die Entstehung des Dreibunds und die Ereignisse bis hin zum Attentat von Sarajevo, die die Ursprünge für die politischen Spannungen in den internationalen Beziehungen waren, diskutiert. Im Zuge der Betrachtung des Kriegsverlauf und der Konsequenzen liegt der Fokus meist auf den Ereignissen in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland. Ganz besonders werden die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen behandelt. Nur die zentralsten Aspekte der polnischen Perspektive werden in den Kontext internationaler Politik und Kriegsführung eingeordnet, an dem ein großer Teil der Welt - neben den Besatzern Polens - mitwirkte.
Polnische Materialien
Fragen:
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Lies den Artikel „Krieg feiern, europäische Gesellschaften zu Beginn des Ersten Weltkriegs” aus der „Mówią wieki”. Von was handelt der Artikel? Versuche in deinen eigenen Worten den Titel „Krieg feiern” zu erklären.
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Diskutiert in einer Gruppe oder der Klasse: Worauf basierte die zeitgenössische Idee vom Verlauf des Kriegs? |
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a. Auf der Seite welcher Konfliktpartei nahmen die Polen am europäischen Konflikt teil?
b. Wie und warum veränderte der Kriegsbeginn die Einstellung der Polen gegenüber den Besatzungsmächten? |
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Polnische Materialien
Fragen:
1 |
Lies den Artikel „Krieg feiern, europäische Gesellschaften zu Beginn des Ersten Weltkriegs” aus der „Mówią wieki”. Von was handelt der Artikel? Versuche in deinen eigenen Worten den Titel „Krieg feiern” zu erklären.
Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe kann alleine oder in Zweiergruppen erledigt werden. Im Anschluss kann eine Gruppen-/Klassendiskussion über die derzeitige Wahrnehmung von militärischen Konflikten geführt werden. Die Lehrkraft kann die Schülerinnen und Schüler zu ihren Meinungen über die Legitimität und die Effizienz der militärischen Konfliktlösung befragen. Als Beispiele können die Kriege unserer Zeit gelten, wie die im Irak, in Afghanistan oder der Konflikt in Syrien usw. Die Diskussion sollte sich auf die Reaktion von Gesellschaften auf solche Ereignisse konzentrieren und die Argumente von Befürwortern und Gegner von internationalen Interventionen aufgreifen.
Lösung:
Der Artikel handelt von den Reaktionen der europäischen Gesellschaften
auf den Kriegsbeginn 1914. Er beschreibt die öffentliche Meinung in
den europäischen Ländern, die in den Krieg eintraten, und die
Vorstellungen der Menschen vom Verlauf und der Dauer des Kriegs. Der
Autor beschreibt auch die Hoffnungen der verschiedenen Staaten und
sozialen Gruppen, die diese mit dem Kriegsbeginn verbanden. Außerdem
erläutert er die Probleme, deren Lösung man sich vom Krieg versprach.
Der Titel Krieg feiern bezieht sich auf die Gefühle der Freude,
des Enthusiasmus und des Optimismus, die die Gesellschaften angesichts
des Kriegs dominierten. Ereignisse wie Kriegseintritte, Mobilmachungen
und Truppenaufmärsche wurden als Feste der nationalen Einheit, des
Patriotismus und des Heldentums gefeiert. Deshalb glichen alle
Kriegsvorbereitungen in den meisten Ländern einer Feier.
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Liste die internationalen Ereignisse aus dem Artikel auf, die dem Beginn des Ersten Weltkriegs voran gingen. Welche waren die unmittelbaren Gründe des Kriegsbeginns im Jahr 1914? Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe kann alleine oder in Zweiergruppen erledigt werden. Die politischen Ereignisse, die dem Kriegsbeginn vorangingen, werden im Artikel episodisch erwähnt. Beispielsweise erwähnt der Autor nicht das Attentat von Sarajevo, das den unmittelbaren Kriegsgrund darstellte. Um ein besseres Verständnis der Ursachen des Konflikts zu erreichen, kann die Lehrkraft den Schülern auftragen, die Informationen aus dem Artikel mit denen im Schulbuch zu vergleichen. Die Zusatzinformationen aus dem Schulbuch können zur Lösung der Aufgabe verwendet werden.
Lösung: Folgende Ereignisse werden im Artikel erwähnt:
Laut
des Artikels ist der unmittelbare Kriegsgrund das österreich-ungarische
Ultimatum an Serbien. Die Lehrkraft sollte den Schülerinnen und Schülern den Gedanken des
Dominoeffekts erklären, wonach das komplexe, europäische Bündnissystem
nach der Abweisung des Ultimatums durch Serbien und der Kriegserklärung
Österreich-Ungarns innerhalb weniger Tage zusammenbrach. |
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Wie stellten sich damals die Menschen den Verlauf des Konflikts vor dem „Ausbruch" 1914 vor?
Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe kann einzeln oder in Gruppen von drei oder vier Schülerinnen und Schülern erledigt werden. Diskutiert in einer Gruppe oder der Klasse: Worauf basierte die zeitgenössische Idee vom Verlauf des Kriegs?
Lösung: Die
Befehlshaber orientierten sich vor allem an zurückliegenden Kriegen,
die meist kurz waren und auf schnellen, gezielten Militärschlägen
beruhten. Beispiele wie der Amerikanische Bürgerkrieg oder der
Russisch-Japanische Krieg wurden nicht beachtet (S. 33). Die Menschen
waren nicht in der Lage sich einen Konflikt von dem Ausmaß des Ersten
oder Zweiten Weltkriegs auszumalen. Ihnen waren die Auswirkungen der
neuen Kriegstechnologien nicht bewusst. Bisher waren Kriege immer
normale Mittel zur Verfolgung internationaler Interessen gewesen und
lösten deshalb keine große öffentliche Besorgnis aus, wie sie das heute
tun (S. 33).
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Welche Werte sollte der Krieg nach den Meinungen der damaligen Intellektuellen, Philosophen und Politiker nach Europa bringen? Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe kann allein oder in Zweiergruppen bearbeitet werden.
Lösung:
Die Intellektuellen, Philosophen und Politiker dieser Zeit waren der
Meinung, dass der Krieg die einzelnen Gesellschaften einen würde. Der
Krieg sollte die nationale Einheit stärken (S. 34). Manche
philosophische Ansichten so wie der Sozialdarwinismus (S. 34) waren der
Ansicht, dass zu lange Friedenszeiten schaden könnten. Laut den
Vertretern einer solchen Ansicht, bereinigte der Krieg die
Verhältnisse zwischen Staaten und half, positive Werte wie „Opferbereitschaft, Hingabe, Disziplin, Mut, Brüderlichkeit oder
Ehrlichkeit, die die Menschen von den Fesseln des Konsums befreien" (S.
34) zu verbreiten. Dieser Ansicht nach war Krieg eine Form der
natürlichen Selektion, die nur die besten und stärksten Staaten sowie
Individuen am Leben ließ und die Schwachen auslöschte (S. 34-35).
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Welche Gruppen zeigten die größte Begeisterung für den Krieg? Welche Gruppen sahen den Kriegsbeginn mit Skepsis? Diskutiert mögliche Ursachen für die verschiedenen Ansichten. Methodische Anmerkungen: Der Auftrag soll in kleinen Gruppen bearbeitet werden, wobei jeder Gruppe ein anderes Thema zugewiesen werden sollte. 1) Gruppierungen, die sich für den Krieg begeisterten und deren Argumente 2) Skeptische Gruppierungen und deren Argumente Die Gruppen sollten ihre Ergebnisse vor der Klasse vorstellen. Die Aufgabe kann dadurch erweitert werden, dass Vertreter beider Gruppen eine von der Lehrkraft geleitete Diskussion führen, bei der diese jeweils das Gegenüber zu überzeugen versuchen.
Lösung: 1) Gruppierungen mit Kriegsbegeisterung Vor allem junge Menschen sahen dem Krieg positiv entgegen. Sie sahen ihn als Möglichkeit ein Abenteuer zu erleben, sich von ihren Eltern zu lösen, etwas über andere Länder zu erfahren und Ruhm zu ernten. Die Intellektuellen sahen im Krieg eine Chance zur moralischen Erneuerung der Gesellschaft und eine Möglichkeit das Nationalbewusstsein zu stärken. Auch Minderheiten (religiös oder ethnisch) befürworteten den Krieg, weil diese dadurch Patriotismus beweisen wollten (S. 34-35). 2) Skeptische Gruppierungen
Die
Arbeiterschaft und die Bauern waren hinsichtlich des Kriegs nicht
euphorisch. Diese Gruppen hatten jeden Tag mit den größten Belastungen
und Armut zu kämpfen und der Krieg belastete sie nur zusätzlich. Die
Sozialisten wendeten sich aufgrund ihrer politischen Überzeugung gegen
den Krieg. Internationalismus und Antimilitarismus waren wichtige
Elemente ihres politischen Programms (S. 35). Sozialisten und
Sozialdemokraten waren häufig aus ärmeren Gesellschaftsschichten (meist
Arbeiter), weshalb ihre Ziele sich an den Ansichten dieser
Gruppierungen orientierten. Der einzige Grund für die Sozialdemokraten,
den Krieg zu unterstützen, bestand in der Hoffnung auf eine
Demokratisierung des politischen Systems, die den Arbeitern und Bauern
mehr Rechte beschert hätte (S. 35-36).
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Analysiere mit Hilfe des Artikel die Einstellung der okkupierten, polnischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg. Diskutiere mit einem Klassenkameraden mögliche Ursachen einer derartigen Ansicht. Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe sollte in Zweiergruppen bearbeitet werden. Lösung: Die Polen in allen drei annektierten Gebieten unterstützten energisch die Kriegsteilnahme und traten den Streitkräften der Besatzer bei. Diese öffentliche Meinung resultierte aus der Hoffnung, die Unabhängigkeit nach dem Krieg wieder zu erlangen (S. 36). a. Auf der Seite welcher Konfliktpartei nahmen die Polen am europäischen Konflikt teil? Lösung: Die Polen, die im russischen Marionettenstaat Kongresspolen lebten, erklärten sich der russischen Seite loyal. Die Polen auf preußischem Gebiet schlugen sich auf die deutsche Seite und die Polen auf österreich-ungarischem Gebiet, kämpften für diese (S. 36). b. Wie und warum veränderte der Kriegsbeginn die Einstellung der Polen gegenüber den Besatzungsmächten?
Lösung:
Vor dem Krieg, behandelte Polen die Besatzer mit Feindseligkeit und
Ausgrenzung. Der Kriegsbeginn und die Zuversicht, die Freiheit
dadurch zu erlangen, Schulter an Schulter mit den Invasoren zu kämpfen,
änderte die Einstellung. Die Polen demonstrierten Einheit und
Brüderlichkeit mit den Soldaten der Besatzungsmächte: Die Soldaten
wurden in die Gesellschaft aufgenommen, polnische Frauen heirateten
Russen in orthodoxen Kirchen und polnische Männer traten freiwillig den
verschiedenen Armeen bei (S. 36). Die polnischen Soldaten erhofften sich durch Hingabe und Einsatz eine Belohnung, d. h. einen freien polnischen Staat, nach dem Krieg zu verdienen.
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Weshalb kippte die optimistische und patriotische Stimmung in Europa in den folgenden Monaten? Methodische Anmerkungen: Die Aufgabe kann allein oder in Gruppen bearbeitet werden. Die Aufgabe kann zu einer Diskussion über den militärischen Verlauf im Vergleich zu den Erwartungen im Sommer 1914 führen. Lösung: Die öffentliche Meinung in den Ländern, die am Krieg teilnahmen, änderte sich dadurch, dass Nachrichten von den Verlusten eintrafen und verwundete Soldaten von der Front heimkehrten (S. 36). Die tatsächlichen Folgen des Kriegs erwiesen sich als gänzlich anders, als es sich die Menschen zur Zeit der ersten Kriegserklärungen vorgestellt hatten. |
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Diskutiert in Gruppen oder in der Klasse darüber, inwiefern die Ansichten der europäischen Gesellschaften vor dem Kriegsbeginn als legitim und praktikabel angesehen werden können. Welche Konsequenzen hat ein Krieg noch heute für eine Gesellschaft? Methodische Anmerkungen: Diese Aufgabe sollte in Form einer Gruppen-/Klassendiskussion bearbeitet werden. Die Lehrkraft kann hier die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, ihr eigenes Wissen über die Konsequenzen von bewaffneten Konflikten einzubringen. Lösung: Die öffentliche Meinung in den Ländern, die in den Krieg eintraten, war unrealistisch und nicht gerechtfertigt. Die Menschen waren sich nicht bewusst, dass die Weiterentwicklung von Waffentechniken - beispielsweise von Giftgas - nicht nur den Krieg hinauszögern würde, sondern ihn auch blutiger machte als je ein Krieg zuvor. Gleichzeitig hatte der Krieg auch schmerzhafte Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung; als Folge direkter militärischer Auseinandersetzungen und auch als Folge von Hunger, Epidemien, Massenmigration usw. Derartige Phänomene lassen sich auch bei heutigen Konflikten beobachten. Als Beispiel können die militärischen Auseinandersetzungen im Mittleren Osten und Afrika angeführt werden. |
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